Fünf weitere Erinnerungsstelen für jüdische Opfer des Nationalsozialismus in Linz aufgestellt
Veröffentlichung des ersten Teils an Kurzbiographien, verfasst von der wissenschaftlichen Kuratorin Verena Wagner
Seit vergangenem Jahr erinnern in Linz freistehende Messing-Stelen an jüdische Opfer der NS-Verfolgung. Die Aufstellungsorte befinden sich nahe jenen Straßenzügen, wo die Personen ihre letzte, frei gewählte Wohnadresse zum Zeitpunkt des Anschlusses im März 1938 hatten.
Ende Mai wurden fünf weitere Erinnerungszeichen errichtet, die sich bei der Rudolfstraße 27, Bismarckstraße 3, Landstraße 44, Hauptplatz 27 (nahe dem Durchgang zur Domgasse) und im Hessenpark, an der Ecke Volksfeststraße/Hessenplatz befinden. Insgesamt gedenken im Linzer Stadtgebiet nun 22 Stelen 194 jüdischer Holocaust- und Fluchtopfern des Nationalsozialismus. Diese Messingstelen sind mit deren Daten sowie Klingeln als mehrdeutige Metapher des Erinnerns versehen.
Weiters erfolgte auf www.stadtgeschichte.linz.at die Veröffentlichung des ersten Teils an Kurzbiographien, die von der wissenschaftlichen Kuratorin Verena Wagner zu den Opfern verfasst werden. Das Web-Memorial auf www.linzerinnert.at, wo ebenfalls alle Daten zu den auf den Stelen angeführten vertriebenen und ermordeten Linzer*innen abrufbar sind, ist ebenfalls mit den Kurzbiographien und Eintragungen in der städtischen Denkmaldatenbank verknüpft.
Die Erinnerungszeichen sind permanente, von der Stadt Linz errichtete Stelen, die ein personalisiertes Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus ermöglichen – insbesondere als Erinnerung an verfolgte, vertriebene und ermordete Linzer Jüdinnen und Juden.
Die Stadt Linz beschäftigt sich seit Jahrzehnten auf vielfältige Weise mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit. Mit den von Andreas Strauss gestalteten Erinnerungszeichen, die an 22 Standorten für insgesamt 194 jüdische Opfer des Nationalsozialismus ein ehrendes Gedenken ermöglichen, beschreitet die Stadt einen ganz eigenständigen Weg.
„Mit Gemeinderatsbeschluss von 1996 hat sich die Stadt zur umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Geschichte bekannt und sich dieser Aufgabe unter der Federführung des Archivs der Stadt Linz in vorbildhafter Weise gestellt. Mit den Erinnerungszeichen wird ein weiterer wichtiger Weg beschritten, damit das Geschehene und vor allem die Opfer nicht vergessen werden. Mein Dank gilt vor allem auch Frau Wagner, die nun die ersten abrufbaren Kurzbiographien erstellt hat“, sagt Bürgermeister Klaus Luger.
„Ein weiterer Schritt in Richtung Aufarbeitung und Sichtbarmachung der nationalsozialistischen Geschichte von Linz stellt die Umsetzung eines personalisierten Erinnerns an NS-Opfer im öffentlichen Raum der Stadt dar. Diese vom Künstler Andreas Strauss kreierten Stelen mit Klingeln sollen wissenschaftlich basierte Aufklärung mit der emotionalen Dimension des Erinnerns verknüpfen – in vorbildlicher Weise verbunden mit den Kurzbiographien der Kuratorin Verena Wagner und dem Web-Memorial“, betont Kulturstadträtin Doris Lang-Mayerhofer.
Umfangreiche wissenschaftliche Recherchen der Kuratorin Mag.a Verena Wagner und deren Veröffentlichung gemeinsam mit dem Archiv der Stadt Linz haben dieses einzigartige, für die Aufarbeitung unserer geschichtlichen Vergangenheit so wichtige Projekt ermöglicht. Mein Dank gilt auch den Mitarbeiter*innen vom Geschäftsbereich Stadtgrün und Straßenbetreuung, die die Aufstellung der Messingstelen jedes Mal tatkräftig unterstützen“, betont Stadträtin Mag.a Eva Schobesberger.
Fünf neue Stelen mit 50 Flucht- und Shoah-Opfern
Die an den Orten Landstraße, Bismarckstraße, Hessenplatz, Hauptplatz und Rudolfstraße neu errichteten Stelen nennen 30 ermordete bzw. in den Tod getriebene Jüdinnen und Juden, davon 17 Frauen und 13 Männer. Zwölf davon kamen in Auschwitz zu Tode, fünf in Theresienstadt, drei in Izbica, zwei in Treblinka, zwei in Nisko, zwei in Minsk bzw. Maly Trostinec, einer in Riga, einer in Dachau, eine in Włodawa und einer durch Selbstmord.
Besonders traurig ist die Auslöschung ganzer Familien wie des Ehepaares Leo und Eugenie Borger mit Sohn und Tochter (Stele Hauptplatz) sowie des Ehepaares Emil und Martha Fränkel mit zwei Töchtern (Stele Rudolfstraße), wovon ein Kind erst 1938 zur Welt gekommen war.
Vielfach sind unter den Opfern auch ältere Ehepaare oder verwitwete Elternteile, deren Kinder noch eine Flucht nach England, Holland und Palästina gelungen war wie Pollak, Pisk, Eibuschütz und Bruckner. Diese versuchten oft verzweifelt, ihre Eltern zu sich zu holen, was nach Ausbruch des Krieges fast unmöglich wurde.
Anderen Familien – 20 auf den Stelen genannte Personen – wie Basch und Rubinstein gelang eine gemeinsame Flucht oder eine getrennte, wie Mautner und Kren.
Wissenschaftliche Datenrecherche
Verena Wagner recherchiert im Auftrag der Stadt Linz die Daten der auf den Stelen genannten jüdischen Flucht- und Shoahopfer. Eine vollständige Erfassung der Opfer ist ein work in progress. Das primäre Ziel besteht darin, alle durch das NS-Regime Ermordeten bzw. in den Tod Getriebenen, die im März 1938 einen Wohnsitz in Linz hatten, zu identifizieren. Aufgrund fehlender Adressbücher oder Meldekarteien aus dem Jahr 1938 gestaltet sich die Forschungsarbeit äußerst schwierig. Insgesamt erstreckt sich die wissenschaftliche Datenrecherche sowohl auf die Archive der Stadt Linz und des Landes Oberösterreich als auch auf Gemeindeämter und Dokumentensammlungen im In- und Ausland.
Erstellung von Kurzbiographien
In weiterer Folge wurde Verena Wagner die Erstellung von Kurzbiographien zu den auf den Stelen genannten Flucht- und Shoahopfern übertragen. Viele dieser Biographien beruhen auf ihren wissenschaftlichen Forschungen und Publikationen zu zahlreichen jüdischen Familien und Einzelpersonen in Linz. Es fließen in diese Lebensläufe auch Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ein. Andere Kurzbiographien können ausschließlich aus Unterlagen, die sich in Archiven, Gemeindeämtern, Museen etc. weltweit erhalten haben, rekonstruiert werden. Je nach Quellenlage ergibt sich ein fragmentarisches oder ein umfassenderes Bild. Bei einzelnen Biographien ist es in unterschiedlichem Ausmaß möglich, auf bereits vorhandene Fachliteratur zurückzugreifen.
Folgende 33 Kurzbiographien sind bereits auf stadtgeschichte.linz.at/erinnerungszeichen.php veröffentlicht:
Erinnerungszeichen Altstadt
Joseph Töpfer
Margarethe Töpfer
Ernst Töpfer
Ottilie Töpfer, verh. Chaia Grenadier
Edith Töpfer, verh. Rifka Raab
Erinnerungszeichen Bernaschekplatz
Dr. Karl Czerwenka
Jenny Fürnberg, geb. Hahn
Martha Kulka, geb. Fürnberg
Erinnerungszeichen Bischofstraße
Leopold Stein
Wilhelm Schwager
Hermine Schwager, geb. Stein
Erinnerungszeichen Figulystraße
Emanuel Sand
Mina Sand, geb. Bruckner
Melitta Sand, verh. Gans
Lily Sand, verh. Guttmann, später Goodman
Dr. Karl Schwager
Valerie Schwager, geb. Löwit, verw. Grunwald
Hermann Grunwald
Joseph Michael Schwager, später Micha Shagrir
Erinnerungszeichen Gerstnerstraße
Josefine Buchwald, geb. Guttmann
Rudolf Guttmann, später Goodman
Erinnerungszeichen Schillerpark
Dr. Otto Gerstl
Johanna Richter, geb. Fischer
Erinnerungszeichen Starhembergstraße
Michael Gans
Sabine Gans, geb. Fuchs
Erinnerungszeichen Stockhofviertel
Ignaz Bruckner
Elisabeth Bruckner, geb. Gans
Erich Bruckner, später Eric
Gustav Gans
Erinnerungszeichen Volksgarten
Rudolf Schiller
Helene Schiller, geb. Weil
Edith Schiller, verh. Admon
Vermittlung – Angebote für Schulklassen
Die Stadt Linz bietet in Zusammenarbeit mit einem staatlich geprüften austria guide ab Herbst geführte Rundgänge zu den Erinnerungszeichen an, die auch den zeitgeschichtlichen Rahmen zum jüdischen Leben in Linz geben.
Die Friedensstadt Linz stellt Schulklassen (Fokus auf 9./10. Schulstufe in Mittelschulen und Polytechnische Lehrgänge) unter dem Titel „Es gärt!“ zu ausgewählten Terminen ein Workshop-Angebot zur Auseinandersetzung mit den Themen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Nationalismus bzw. Vertreibung zur Verfügung. Mehr Information unter www.friedensstadtlinz.at
Klingel als Metapher und interaktives Element des Erinnerns
Jede Stele ist aus Messing gefertigt. Darauf sind Name und Geburtsjahr der Opfer des Nationalsozialismus sowie Angaben zur Deportation, Ermordung oder Flucht graviert. Der Aufstellungsort befindet sich freistehend in der Nähe von jenen Straßenzügen, wo diese Personen ihre letzte, frei gewählte Wohnadresse in Linz zum Zeitpunkt des Anschlusses im März 1938 hatten.
Direkt neben den Namen sind an der Stele mechanische Türklingeln angebracht, die, wenn man sie drückt, einen leisen Klingelton erzeugen. Der oberösterreichische Künstler Andreas Strauss stellt die Klingel als mehrdeutige Metapher des Erinnerns ins Zentrum seiner Gestaltung, die sowohl Assoziationen des Daheim- und Zuhause-Seins hervorruft als auch den Moment des gewaltsamen Abholens beschreibt. Der Akt des „Anläutens“ stellt einen emotionalen Kontakt zu den Vertriebenen und Ermordeten her und lässt die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwinden.
Einweihung mit feierlicher Zeremonie im September 2022
Im Rahmen einer feierlichen Zeremonie am 15. September 2022, dem internationalen Tag der Demokratie, wurde das 17. Erinnerungszeichen am Alten Markt in der Linzer Altstadt aufgestellt. Stellvertretend für alle anderen errichteten Stelen nahm Oberrabbiner Jaron Engelmayer die Einweihung dieser Stele in Anwesenheit des israelischen Botschafters Mordechai Rodgold sowie der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Linz Charlotte Herman vor. Anschließend folgte eine würdige Gedenkfeier im Alten Rathaus. Rund 70 Nachkommen von 15 jüdischen Linzer Familien reisten aus dem Ausland (USA, Kanada, Israel, Argentinien, Deutschland und England) an, um dieser außergewöhnlichen Zeremonie beizuwohnen und die neu errichteten Stelen als Gedenken ihrer ermordeten und vertriebenen Familienmitglieder zu besichtigen.
Umsetzung der Erinnerungszeichen
Der Gemeinderat der Stadt Linz beauftragte im Jänner 2019 die Direktion Kultur und Bildung sowie die Abteilung Linz Kultur mit der Realisierung und Koordination der Wettbewerbsdurchführung und anschließenden Umsetzung von Linzer Erinnerungszeichen, die permanent und personalisiert im öffentlichen Stadtraum den Linzer NS-Opfern gedenken.
Andreas Strauss entwickelte und fertigte gemeinsam mit Lehrlingen des Ausbildungszentrums der voestalpine die Klingeln der Linzer Erinnerungsstelen. Dank dieser Zusammenarbeit erhielt die Vermittlung des Projekthintergrundes für Jugendliche eine bedeutende Rolle. Dabei war auch das Zeitgeschichte Museum der voestalpine eingebunden, welches den NS-Zwangsarbeiter*innen am Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin gewidmet ist. Die voestalpine stellte darüber hinaus Stahlbrammen als Fundamente für die Stelen im bebauten Innenstadtbereich zur Verfügung.
Die Messingstelen samt Unterkonstruktion aus Edelstahl fertigte die Metallwerkstätte Hofstätter, das Fräsen der Texte erfolgte in der Innovationswerkstatt der Tabakfabrik Linz, der GRAND GARAGE. Für die Website www.linzerinnert.at und die Schriftgestaltungen auf den Stelen zeichnet das Wiener STUDIO WHY verantwortlich.
Innerhalb der Stadtverwaltung waren das Archiv der Stadt Linz sowie die Abteilungen Straßenverwaltung und Verkehrsplanung in die Vorarbeiten eingebunden. Die Aufbereitung des Untergrundes und Versetzen der Fundamente beziehungsweise Pflasterung übernahm der Geschäftsbereich Stadtgrün und Straßenbetreuung des Magistrats.
Koordiniert wurde die Beteiligung zahlreicher Partner*innen von der Leitung des Geschäftsbereichs Kultur und Bildung bzw. der Abteilung Linz Kultur. Laufend erfolgte ein enger Austausch über die Entwicklung und Umsetzungsschritte mit der Israelitischen Kultusgemeinde Linz.
Diese von der Stadt Linz finanzierten Gedenkstelen wurden darüber hinaus mit Förderungen vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie vom Zukunftsfonds der Republik Österreich (ÖZF) unterstützt.