
Wir schreiben den 9. Oktober 1902. In der Deckung des Morgengrauens machen sich verstohlen zwei Männer am Urfahraner Donauufer auf, um etwas offensichtlich Schweres zur Donau zu schaffen.
Sie mühen sich ab, denn körperliche Arbeit sind sie nicht gewohnt. Was haben sie vor und wer sind sie eigentlich? Der eine ist der Linzer Berufsfotograf Adolf Nunwarz. Der andere ist niemand geringerer als der berühmte deutsche Reise- und Abenteuer-Schriftsteller Karl May aus Dresden. Was sie da schleppen und in der Donau versenken und damit für alle Zeiten verschwinden lassen wollen, sind Bleiplatten, wie sie um 1900 als Trägermaterial in der Fotografie verwendet werden. Platten von Aufnahmen, auf denen Karl May selbst zu sehen ist. In Kostüm – als Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand!
Zwei Linzer Fotografen
Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben war der damals 60-jährige Karl May (1842-1912) am Tag davor nach Linz gereist, um seinen mit Exklusivrechten ausgestatteten Vervielfältiger und Vermarkter dieser Fotos Adolf Nunwarz (1868-1931) zu treffen. Der hatte sie allerdings nicht selbst geschossen, sondern von seinem Freund, dem Amateurfotografen, May-Verehrer und späteren Landesrechnungshofdirektor Alois Schießer (1866-1945) erworben. Schießer hatte 1896 in Dresden Jus studiert, dort Karl May kennengelernt und in nur fünf Tagen 101 Aufnahmen von ihm in Verkleidungen gemacht. Aus Spaß? Mitnichten.
Ich, der legendäre Held
Karl May war mit zunehmender Berühmtheit über Anspielungen in seinen in Ich-Form erzählten Romanen immer weiter hinausgegangen und hatte schließlich offen behauptet, dass er wirklich selbst der Protagonist seiner Abenteuer in aller Welt gewesen sei und alles genau so erlebt hätte. Das ging so weit, dass er Winnetou-Fans Pferdehaare als die des Apachen-Häuptlings persönlich schickte! Die sogenannte „Old Shatterhand-Legende“ war damit weit mehr als ein Marketing-Gag. Es war eine gigantische Lüge, die hunderttausende, meist jugendliche May-Leser fest glaubten und ihren Helden abgöttisch verehrten. Bis um 1900 – just als Karl May seine erste echte Orient-Reise unternahm – aufflog, dass er nie im Wilden Westen oder im Wilden Kurdistan gewesen sein konnte, da er zur fraglichen Zeit als betrügerischer Kleinkrimineller im Gefängnis gesessen hatte!
Blond wie Old Shatterhand?
Mit der „Entsorgung“ der Fotoplatten hoffte May, Beweise für seinen Schwindel zu vernichten, was freilich illusorisch blieb. Dass heute jede Einzelheit seines Lebens und Schaffens bekannt ist, ist ausgerechnet seinem großen Erfolg zu verdanken, der über die Romane weit hinausging und mit Shows, Festspielen und Filmen auch nach seinem Tod anhalten sollte. Zumindest stellt sich heute niemand Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi wie Karl May vor, sondern wie den Hollywood-Schauspieler Lex Barker (1919-1973), der den Helden in den legendären deutschen Verfilmungen der 1960er Jahre mimte.
In Memoriam May in Linz
Und was blieb in unserer Stadt? Die Villa Nunwarz, vor der sich die denkwürdige Ho-Ruck-Aktion des Schriftstellers und des Fotografen abspielte, steht heute noch am Urfahraner Donauufer. An der Fassade des hellgelb leuchtenden Gebäude direkt neben dem Gastgarten des Fischerhäusls prangt seit 1986 sogar eine Gedenktafel, die an das Treffen Karl Mays mit „seinen“ Fotografen erinnert. Freilich ohne Erwähnung des in der Donau begangenen Tatbestands der Umweltverschmutzung.
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Wenn du relevante Informationen zu diesem Artikel hast, schick sie uns doch per Mail!



